Treue auf dem Prüfstand

Loyale Kunden oder flinke Schnäppchenjäger? Wen soll man belohnen, damit die Umsätze im wirtschaftlich schwierigen Umfeld nicht ins Trudeln geraten? Wie wachsen Marken nachhaltig und welche Gesetzmäßigkeiten stecken dahinter? Die Forscher:innen von Seven.One Media zeigen anhand von GfK-Konsumdaten, welche Faktoren den Erfolg beeinflussen.

Text: Cathrin Hegner

Wer will sie nicht, die loyalen Kund:innen, die treu zur Marke stehen und auch in Krisenzeiten verlässlich immer nach der gleichen Packung greifen? Die Jahr um Jahr ins selbe Hotel fahren, am Zeitungsabo festhalten und im selben Buchladen Schlange stehen? So viel Loyalität muss natürlich belohnt werden, denn jeder Markenfan zählt. Und der feste Glaube, es sei billiger, Kund:innen zu halten, als neue zu gewinnen, scheint so manchen Marketer übers unruhige Fahrwasser zu tragen.

Gutscheine, Coupons, Sachgeschenke und der Zugang zu diversen Vorteilswelten sollen die Verlässlichen bei Laune halten. Die Coronakrise gilt als Treiber für Bonusprogramme; große Marken wie Burger King legten erstmals Loyalty-Programme auf oder investierten wie Marks & Spencer in den weltweiten Rollout. Kundenbindungsprogramme beeinflussen das Verhalten der Verbraucher:innen, so eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey. Die Mitglieder seien eher bereit, einen Anbieter weiterzuempfehlen und häufiger bei ihm einzukaufen. Laut den Ergebnissen des Consumer-Barometers von IFH Köln und KPMG nutzt jede:r Zweite in Deutschland Kundenprogramme – meist per App. Im Lebensmitteleinzelhandel gehören sie längst zum Standard. Die Nutzer:innen geben an, dass sie den jeweiligen Händler bevorzugen (55 Prozent), weiterempfehlen (40 Prozent) sowie häufiger (53 Prozent) und mehr (39 Prozent) bei ihm einkaufen.
 

Mehrwert durch Kundenbindung?

So viel zur Theorie, denn am Ende zählt natürlich, ob dieser gefühlte Mehrumsatz auch tatsächlich in der Kasse der Unternehmen landet, die sich die Rabatt- und Belohnungssysteme einiges kosten lassen. Darüber, ob sich das Ganze lohnt, wird in der Fachwelt schon seit Jahrzehnten gestritten – spätestens seit der australische Marketingwissenschaftler Byron Sharp sein Standardwerk „How Brands Grow“ zu den Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien des Marketings vorgelegt hat. Darin warnt der Direktor des Ehrenberg-Bass Institute davor, die Loyalität der Kundschaft überzubewerten. Wer wachsen wolle, dürfe nicht auf die so genannten „Heavy Buyers“ setzen. Stattdessen müssten Unternehmen neue Käufergruppen gewinnen – „Light Buyers“ und „Non-Buyers“, die bisher gar nicht oder nur gelegentlich zur Marke greifen.

Seit der Ersterscheinung im Jahr 2010 haben Sharp und sein Team diesen Zusammenhang sowie die daraus abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten in zahlreichen empirischen Studien für verschiedene Marken und Branchen nachgewiesen und sind dafür mehrfach ausgezeichnet worden. Ihre jüngste Untersuchung, die Konsumdaten aus über 12.000 Haushalten in Großbritannien umfasst, belegt einmal mehr: Die Top-20-Prozent der aktuellen Käufer:innen stehen zwar für rund 60 Prozent des Umsatzes. Das größte Wachstumspotenzial liegt jedoch bei denen, die gar nicht (66 Prozent) oder nur gelegentlich (25 Prozent) zuschlagen. Loyalitätsprogramme hin oder her – aus den treuesten Kund:innen ließen sich gerade mal neun Prozent mehr Umsatz herausholen.

Die Markt- und Konsumdaten für die aufwendigen Analysen stammen in der Regel aus dem angloamerikanischen und australischen Markt sowie aus Großbritannien. „Umso spannender ist es, Sharps Regelwerk anhand aktueller Konsumdaten für den deutschen Markt nachzuvollziehen“, sagt Guido Modenbach, Geschäftsführer von Seven.One Media. Dafür hat das Team um Forschungsdirektor Gerald Neumüller GfK-Konsumdaten zu 143 Marken aus sechs Kategorien über fünf Jahre analysiert. Mit dabei: Pralinen, Fertigdesserts, Schokoriegel, Röstkaffee, Haarshampoo und Butter. „Es geht uns nicht darum, Sharps Regelwerk auf den Prüfstand zu stellen“, betont Neumüller. „Wir wollen die wichtigsten Grundlagen für Marketingentscheidungen und den Erfolg von Marken mit Beispielen aus der Praxis beleben.“

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen analog zu Sharps Thesen zwei zentrale Fragen: Wie wachsen Marken? Und: Wie kaufen Konsument:innen? So einfach das erst einmal klingt, die Antwort auf diese Fragen sollten die Basis jeder Media- und Werbeentscheidung sein. Für den bekannten Marketingstrategen liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Akquise von Gelegenheits-Shoppern. Erfolgreiche Marken müssten daher kontinuierlich eine große Menge von Menschen erreichen und überzeugen. Wer wachsen will, muss mehr Käufer:innen gewinnen, zeigt auch die Seven.One-Analyse der GfK-Daten: 72 Prozent der Mengen- und 65 Prozent der Umsatzveränderung der untersuchten Marken erklären sich durch die Entwicklung der Käuferreichweite.

Die Zahlen zeigen, dass sich Markenerfolg durch den Ausbau der Käuferbasis steuern lässt. Aber warum schneiden dabei einige deutlich besser ab als andere? Sharp erklärt die Unterschiede zwischen großen und kleinen Marken mit dem „Double Jeopardy Law“. Demnach haben Marken mit geringerem Marktanteil nicht nur weniger Käufer:innen, sie werden von diesen auch seltener gekauft. Kleinere Marken sind sozusagen „doppelt geschlagen“. Große Marken zeichnen sich dagegen durch eine breitere Käuferbasis und höhere Kauffrequenz aus.

Für den von Seven.One untersuchten Pralinenmarkt lässt sich Sharps Marketinggesetz wie aus dem Lehrbuch nachvollziehen. Die umsatzschwächeren Marken haben weniger Käuferreichweite und werden seltener gekauft – bei teils überdurchschnittlichem Preis. Die stärkeren Marken haben in der Regel mehr Käufer:innen, die öfter zugreifen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Marke A gelingt es, sich exklusiver zu positionieren. Sie hat weniger Käuferreichweite, aber dank höherem Preis und hoher Kauffrequenz dennoch mehr Umsatz.

Der Zusammenhang zwischen Käuferreichweite und Umsatz macht klar: Wer wachsen will, hat hier einen stärkeren Hebel als in der Kauffrequenz. Einmal mehr muss man sich im Vertrieb und Marketing die Frage stellen, wo die natürliche Verbrauchsgrenze bei schnelldrehenden Konsumgütern liegt: Auch wer die Pralinen oder die Fertigpizza einer bestimmten Marke liebt, wird vermutlich nicht mehr als drei Packungen am Tag hinunterbringen.

Käuferreichweite ausbauen, das klingt so einfach. Aber wo soll die neue Kundschaft herkommen? Wie wird die kleine Marke zur großen Marke? Wer sind die härtesten Konkurrenten?

Zunächst einmal gibt es keinen exklusiven Club von Leuten, die sich gegenüber einer bestimmten Marke loyal verhalten. Wie Sharp nachgewiesen hat, sind die meisten Gelegenheitskäufer, die auch zu anderen Marken im selben Segment greifen. Dabei teilt sich jede Marke die meisten Kund:innen mit dem Marktführer; die geringsten Überschneidungen gibt es mit dem Kleinsten im Segment. Das Anwendungsbeispiel Pralinenmarkt zeigt, dass sich die Top-10-Marken zwischen 48 und 59 Prozent ihrer Käufer mit dem Marktführer teilen. „Jede Marke hat im Marktführer ihren stärksten Konkurrenten“, erklärt Seven.One-Geschäftsführer Modenbach. „Es geht immer darum, dem Marktführer Käufer:innen wegzunehmen und nicht irgendeinem selbstgewählten Wettbewerber eines Nischenmarktes, der vermeintlich ähnlich positioniert ist.“

Wer auf die große Masse der Gelegenheitskäufer setzt, könne Käuferreichweite ausbauen und den großen Marken mehr Kundschaft abknöpfen. Sharp hat sein „Duplication of Purchase Law“ bereits 2005 anhand des Eiscreme-Marktes dargestellt: Sämtliche untersuchten Marken hatten damals die größte Überschneidung der Käuferbasis mit dem Marktführer Carte D’Or. Selbst die sehr ähnlich positionierten Wettbewerber Ben&Jerry’s und Häagen Dazs teilten mehr Käufer:innen mit dem Marktführer als miteinander. Marketer tappten häufig in die Falle, den Wettbewerb in ihrem Markt zu unterschätzen, folgerte der australische Forscher damals. Die Positionierung in der Breite über reichweitenstarke Medien statt in den vermuteten Nischenmärkten, ist die daraus abgeleitete Mediastrategie.

Dass die Hoffnung vieler Unternehmen gerade in unruhigen Zeiten auf den Verlässlichen liegt, ist verständlich. Immerhin sagt ein weiteres Marketinggesetz, dass die Top-20-Prozent der Kund:innen für rund 50 Prozent des Umsatzes stehen. Sie zu vergraulen, wäre sicher keine gute Idee. Immerhin sind derzeit laut einer Umfrage von Marigold und Econsultancy mehr als die Hälfte der europäischen Verbraucher:innen bereit, für den Kauf ihrer bevorzugten Marken mehr zu bezahlen (58 Prozent). Allerdings geben auch 65 Prozent der über 7.000 Befragten an, dass Rabatte auf Produkte und Dienstleistungen für sie das Wichtigste an Treueprogrammen sind. Als Retter in Krisenzeiten müssen sich die Belohnungssysteme erst noch bewähren.

Marketingstratege Sharp verweist darauf, dass Gelegenheitskäufer ebenfalls für rund die Hälfte des Markenumsatzes stehen. Sie zu ignorieren, wäre also auch keine gute Idee.

Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich Loyalität in Zeiten steigender Ansprüche an Haltung und nachhaltiges Handeln tatsächlich über Bonusprogramme und Schnäppchenaktionen aufbauen lässt. Auch das Sammeln von Daten mit dem Ziel, den Kund:innen künftig mehr maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen anzubieten, hat Grenzen. In einer aktuellen Untersuchung von Comarch und YouGov geben 79 Prozent der über 2.000 Befragten an, dass sie verärgert oder irritiert seien, wenn bei der Teilnahme an Treueprogrammen unklar ist, ob persönliche Daten sicher sind. Noch größer ist der Unmut nur, „wenn die Belohnungen eines Programms uninteressant sind“.

Höchste Zeit also für Marketer, beim Thema Loyalty umzudenken, fordert Katy Dunn, Strategy Partner der Werbeagentur RAPP in London: Während traditionelle Bonusprogramme versuchten, Kund:innen durch Belohnungen zu Wiederholungskäufen zu bewegen, müsse Loyalität nachhaltig Markenpräferenzen aufbauen – und zwar bevor man sich für ein Produkt oder eine Dienstleistung entscheidet.

Ohnehin gehören Bonusprogramme nicht zu den vordringlichen Entscheidungskriterien. In der Comarch-Studie werden ebenso wie in anderen Umfragen regelmäßig Produktqualität, Verfügbarkeit und Preis als wichtigste Faktoren genannt, nicht etwa Treueaktionen. Wer möchte, dass Loyalität auf das Firmenkonto einzahlt, müsse eine emotionale Bindung zur Marke aufbauen, ist Markenstrategin Dunn überzeugt.

„Rabatte allein schaffen keine Markenbindung“, bekräftigt auch Andreas Ebeling, Geschäftsführender Gesellschafter der Brandmeyer Markenberatung in Hamburg. Echte Loyalität basiere auf Vertrauen und auf guten Erfahrungen. Nur dann sei man bereit, auch mal einen Fehler zu verzeihen. „Die Kundenvorteile müssen deutlich über Preisanreize hinausgehen, weil ansonsten nur Mitnahmeeffekte und kein echter Mehrwert entstehen.“ Sie sollten „Menschen auch emotional involvieren“.

Die Nähe dieses Loyalitätsbegriffs zu Sharps Konzept der „Mentalen Verfügbarkeit“, die Marken im Gedächtnis mit Assoziationen verknüpft und so die Kaufentscheidung beeinflusst, ist größer als man denkt. Die Top-of-mind-awareness sei ein sehr wichtiger Wert, betont Ebeling: „Wenn ich es schaffe, Loyalität mit einer persönlichen, individuellen, emotionalen Markenbindung gleichzusetzen, fallen den Kunden auch als erstes die Marken ein, mit denen sie sich verbunden fühlen.“